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Anmerkung der SART-Redaktion:
Dieser Beitrag reflektiert die individuelle Einschätzung und den fachlichen Behandlungsansatz des Autors und stellt keine offizielle Position oder Empfehlung der SART dar
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Im ersten Blogbeitrag vom Dezember 2024 (Link) haben wir erklärt, dass uKiB (unbewusste Körperkontrolle in Bewegung) das Ziel darstellt, das innerhalb einer Rehabilitation erreicht werden sollte. Doch wie bei einem 100-Meter-Sprint beginnen wir an der Startlinie und nicht direkt am Ziel. Dabei beginnt der Start einer Rehabilitation viel früher, als dass das den meisten von uns bewusst ist. – nämlich noch bevor wir den Patienten das erste Mal sehen. Warum das so ist, möchten wir heute genauer beleuchten.
Erwartungen prägen den Therapieverlauf
Bevor ein Patient eine Praxis betritt, hat er bereits Erwartungen und allgemeinen Vorstellungen davon, was eine gute Therapie ausmacht. Diese Erwartungen resultieren aus unterschiedlichen Bereichen. So zählen unter anderem individuellen Erfahrungen (z.B. bisherige Therapien, Überzeugungen), ärztlichen Empfehlungen (z.B. Überweisungen an die Physiotherapie), soziales Umfeld (z.B. Erzählungen), Medien und Werbung (z.B. Erfolgsgeschichten), Wissenschaft (z.B. Studien) dazu, um nur einige zu nennen. Als Therapeuten oder Trainer sollten wir uns sehr bewusst darüber sein, welche Erwartungen ein Patient an den Therapieprozess hat.
Was erwarten Patienten?
Eine umfassende Analyse allgemeiner Patientenerwartungen im Gesundheitsbereich zeigt, dass einige Aspekte immer wieder hervorgehoben werden: [1]
-
Zuhören: 71 % der Patienten empfinden dies als „extrem wichtig“, 24 % als „sehr wichtig“. Stelle offene Fragen und gebe somit dem Patienten die Möglichkeit, seine Sorgen
und Erwartungen zu äussern. Wiederhole wichtige Punkte, um sicherzustellen, dass du diese richtig verstanden hast.
- Verständliche Kommunikation: 95 % der Patienten wünschen sich, dass ihre Anliegen klar und nachvollziehbar besprochen werden. Vermeide Fachjargon und erkläre Therapieschritte so, dass der Patient sie nachvollziehen kann. Nutze bildhafte Vergleiche oder Beispiele, um komplexe Zusammenhänge zu verdeutlichen.
- Höflichkeit und Respekt: Ebenfalls 95 % bewerten diese Haltung als essenziell. Eine freundliche Begrüssung, Augenkontakt und ein aufrichtiges Interesse am Wohlbefinden des Patienten schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre.
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Schmerzen ernst nehmen: Patienten möchten, dass ihr Leid anerkannt wird, statt bagatellisiert zu werden.
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Vertrauen in die Fähigkeiten des Therapeuten: Patienten suchen Sicherheit, dass sie in guten Händen sind.
- Saubere und einladende Räumlichkeiten: Die Umgebung trägt zur Vertrauensbildung bei. Eine saubere, einladende und funktionale Umgebung signalisiert zudem Professionalität und Wertschätzung.
-
Ein klarer Therapieplan: Entwickele einen Plan, der die Ziele, Möglichkeiten und Vorlieben des Patienten berücksichtigt. Bespreche den Plan gemeinsam mit dem Patienten
und passen ihn bei Bedarf an. Patienten möchten wissen, welche Ziele verfolgt werden und wie Fortschritte gemessen werden.
- Pünktlichkeit: Respektiere die Zeit des Patienten. Falls eine Verspätung unvermeidlich ist, informiere ihn frühzeitig.
Warum sind diese Erwartungen entscheidend?
Der Erfolg einer Therapie hängt nicht ausschliesslich von den eingesetzten Techniken oder dem Fachwissen ab. Die Forschung zeigt, dass das Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse und Erwartungen der Patienten ein wesentlicher Faktor für den Behandlungserfolg ist. [2], [3], [4], [5] Coulter und Cleary (2001) betonen, dass eine patientenzentrierte Versorgung – das aktive Einbinden des Patienten in Entscheidungen sowie ein respektvoller Umgang – sowohl die Zufriedenheit als auch die Heilungschancen erheblich steigern kann. Patienten, die sich verstanden und ernst genommen fühlen, zeigen eine höhere Adhärenz. Sie sind also eher bereit, aktiv am Therapieprozess mitzuwirken. [6] [7]
Wie können Therapeuten Erwartungen erfüllen?
Der Schlüssel liegt also darin, sich den Erwartungen bewusst zu sein. Wenn ein Patient in deine Praxis kommt, ist es hilfreich, im Vorfeld darüber nachzudenken, warum er sich gerade für dich entschieden hat. Was sind seine Erwartungen an dich als Therapeut? Erwartet er von dir, dass du:
- ihn heilst?
- ihm hilfst?
- ihm zeigst, wie er sich selbst helfen kann?
Sucht er gezielt eine aktive Therapie oder Massage? Wurde er von einer Person empfohlen, der du bereits erfolgreich geholfen hast? Wenn ja, welche Therapieform erwartet der Patient? Schickt ihn ein Arzt, mit dem ihr ein besonderes Vorgehen besprochen habt? Oder hat er dich über deine Homepage gefunden, die ein spezielles Vorgehen aufzeigt? Das alles sind Faktoren, die einen primenden Reiz haben.
Als Priming versteht man die Beeinflussung der Verarbeitung eines Reizes, indem ein vorangegangener Reiz implizite Gedächtnisinhalte aktiviert. Der Hinweisreiz beeinflusst also den Zielreiz im Anschluss. Ein klassisches Beispiel ist der Glaceverkäufer im Kino. Nachdem Glacewerbung gezeigt wurde, die dich gar nicht so wirklich interessiert hat, kommt der Glaceverkäufer um die Ecke und du hast plötzlich Lust auf eine Glace.
Es ist demnach wichtig, den Patienten nicht nur als passiven Empfänger der Behandlung zu sehen, sondern als aktiven Partner, der den Prozess oft selbst initiiert. Während des Rehaprozesses können sich die Erwartungen dabei stets entwickeln und verändern.
Der einfachste Weg, die Erwartungen des Patienten herauszufinden ist, ihn direkt in der Anamnese danach zu fragen: «Was erwartest du von der Therapie/von mir?» Es ist immer wieder erstaunlich, welche Antworten man hier erhält. Natürlich kann dies auch das Gegenteil von dem sein, was ich mir als Therapeut oder Trainer vorstelle. Dann gilt es sich selbst zu reflektieren und einen gemeinsamen Weg zu finden.
Auf den Punkt gebracht kann man also sagen: Wisse was dein Patient glaubt!
Fazit: Die Bedeutung eines gelungenen Starts
Ein gelungener Therapiebeginn ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen Rehabilitation. Indem wir uns bewusst mit den Erwartungen der Patienten auseinandersetzen und diese aktiv in den Therapieprozess einbinden, schaffen wir die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Dabei geht es nicht nur darum, die physischen Beschwerden zu lindern, sondern auch darum, den Patienten in seiner gesamten Lebenssituation wahrzunehmen und zu unterstützen.
In einem der nächsten Blogbeiträge werden wir uns tiefer mit der therapeutischen Allianz beschäftigen und untersuchen, wie sie langfristig zur Genesung beitragen kann.
[1] In Anlehnung an: Beryl Institute Report (2022). Patient Perspectives on Experience.
[2] Craig A Wassinger, D Chase Edwards, Michael Bourassa, Don Reagan, Emily C Weyant, Rachel R Walden, The Role of Patient Recovery Expectations in the Outcomes of Physical Therapist Intervention: A Systematic Review, Physical Therapy, Volume 102, Issue 4, April 2022, pzac008, https://doi.org/10.1093/ptj/pzac008
[3] Bishop MD, Mintken PE, Bialosky JE, Cleland JA. Patient expectations of benefit from interventions for neck pain and resulting influence on outcomes. J Orthop Sports Phys Ther. 2013;43(7):457-65. doi: 10.2519/jospt.2013.4492. Epub 2013 Mar 18. PMID: 23508341; PMCID: PMC5175452.
[4] Shemane, Murtagh., Anestis, Touloumis., Gerrit, Olivier., Jake, Butterworth., Ulrike, Hammerbeck. (2024). 10. Physiotherapy Outcomes Are Associated With Shorter Waiting Times, More Treatment Sessions and Younger Age: Analysis of a Clinical Database. Musculoskeletal Care, doi: 10.1002/msc.1924
[5] Monica, Unsgaard-Tøndel., Monica, Unsgaard-Tøndel., Sylvia, Söderström. (2021). 9. Therapeutic Alliance: Patients' Expectations Before and Experiences After Physical Therapy for Low Back Pain-A Qualitative Study With 6-Month Follow-Up.. Physical Therapy, doi: 10.1093/PTJ/PZAB187
[6] Oster, A., Wiking, E., Nilsson, G.H. et al. Patients’ expectations of primary health care from both patients’ and physicians’ perspectives: a questionnaire study with a qualitative approach. BMC Prim. Care 25, 128 (2024). https://doi.org/10.1186/s12875-024-02389-2
[7] Coulter, A., & Cleary, P. D. (2001). Patient-centered care: what is it and how can it be achieved? Health Expectations, 4(1), 64–70. https://doi.org/10.1046/j.1369-6513.2001.00125.x
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