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Auf zu neuen Ufern – Lernen aus der Rivalität von Powell und Bolt


Anmerkung der SART-Redaktion:

Dieser Beitrag reflektiert die individuelle Einschätzung und den fachlichen Behandlungsansatz des Autors und stellt keine offizielle Position oder Empfehlung der SART dar


Aus einer Blogreihe von Jochen Ganzmann (CoreKnowledge)

 

Asafa Powell vs. Usain Bolt: Eine der größten Rivalitäten in der Leichtathletik im Bereich des 100 Meter Sprints. Powell hat mit beeindruckenden 88 Läufen unter 10 Sekunden die meisten Läufe unter der magischen Marke und gilt auch deshalb als „sub-10-König“. [1] Bolt kann hier mit nur 29 Läufen dagegenhalten.

 

Aber auf der anderen Seite hat Usain Bolt den direkten Vergleich eindeutig für sich entschieden und auch in den wichtigsten Momenten abgeliefert. Von 16 Rennen gegen Powell konnte Bolt 15 für sich entscheiden und sicherte sich so den Ruf als unangefochtener Sieger in den entscheidenden Momenten. [2] 

 

Doch woran scheiterte Powell, der ohne Zweifel über ein außergewöhnliches Potenzial verfügte?

 

[1]  https://de.wikipedia.org/wiki/Asafa_Powell#cite_note-doku-52

[2] https://worldathletics.org/athletes/_/14202176

 

Wenn der Kopf die Bewegung bewusst ausführt

Ein Paradebeispiel für Powells Scheitern sind die Weltmeisterschaften 2007: Während des Rennens liess er sich – damals von Tyson Gay - ablenken und geriet in Panik. Sein Vertrauen in die eigene Fähigkeit schwand. Das Resultat war die Störung der Bewegungskoordination. Anstatt abwechselnd ventrale und dorsale Muskulatur anzusteuern, kam es durch eine erhöhte Koaktivierung zu einer Verkrampfung. was in einer Reduktion der Schrittlänge um 20 Zentimeter resultierte. Dadurch gab es keine Chance für ihn, das Rennen zu gewinnen. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die Koaktivierung ein Resultat des bewusst gesteuerten Bewegungsablaufes war. Powell wollte unbedingt schneller laufen, aber durch die bewusst gesteuerten Bewegungsabläufe des Gehirns wurde die Effizienz reduziert. [3]

 

Dieses Phänomen, dass unter Druck „nichts mehr funktioniert“, ist als „Choking via Explicit Monitoring“ bekannt. Es tritt in allen Lebensbereichen auf und beschreibt eine psychologische Verschiebung von automatischen zu kontrollierten Prozessen. [4]

 

[3] Yoriko Koizumi, Miracle Body (Im Körper eines Topathleten), Dokumentation von der National Film Board of Canada und NHK Japan, 2008

[4] Yu  (2015) Choking under pressure: the neuropsychological mechanisms of incentive-induced performance decrements https://doi.org/10.3389/fnbeh.2015.00019

 

Unsere Patienten im Vergleich

Ähnlich wie im Spitzensport können wir in der Therapie Parallelen erkennen:

Zwar haben die Patienten teils die Fähigkeit und die Fertigkeiten, ADLs auszuführen, doch es funktioniert einfach nicht. 

Patienten mit Rückenschmerzen haben oft Angst, eine falsche Bewegung zu machen und verspüren den Druck, alles richtig zu machen. Diese Angst führt häufig zu einer erhöhten Muskelspannung und Verkrampfung. Studien zeigen, dass Patienten mit chronischen Rückenschmerzen tendenziell steifere Rückenmuskeln haben und eine geringere Bewegungsvariabilität aufweisen. Diese steifen und einseitigen Bewegungsmuster sind oft ein Schutzmechanismus, der jedoch zu einer weiteren Verschlechterung der Schmerzsymptomatik beitragen kann. [5] [6]

 

Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass psychologische Faktoren wie Selbstwirksamkeit und die Überzeugungen eines Patienten über seine Genesung bedeutende Rollen spielen. Positive Selbstwirksamkeit und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten können den Heilungsprozess fördern. Bandura (1997) beschreibt, wie wichtig es ist, dass Patienten an ihre Fähigkeit glauben, ihre Genesung selbst zu steuern. Ein Beispiel: Ein Patient, der nach einer Verletzung die Treppen wieder hochgehen möchte, profitiert von einem Training, das nicht nur seine Muskulatur stärkt, sondern auch sein Vertrauen in die Sicherheit und Stabilität seines Körpers zurückgewinnt. [7]

Die Bedeutung dieser psychologischen Faktoren wird auch in der Forschung zur Rehabilitation von Sportverletzungen unterstrichen. Ardern et al. (2013) fanden heraus, dass der Glaube an die eigene Fähigkeit, zum Sport zurückzukehren, eine Schlüsselrolle für den Erfolg der Rehabilitation spielt. Dieser Glaube wirkt sich positiv auf die Motivation und die psychologische Bereitschaft zur Teilnahme an intensiveren Rehabilitationsmaßnahmen aus. [8]

 

[5] Alsubaie, AM. (2023). Is movement variability altered in people with chronic non-specific low back pain? A systematic review.

[6] Vatovec, R. (2024). Changes of trunk muscle stiffness in individuals with low back pain: a systematic review with meta-analysis

[7] Bandura, A. (1997). Self-Efficacy: The Exercise of Control. New York: W.H. Freeman.

[8] Ardern, C. L., Taylor, N. F., Feller, J. A., & Webster, K. E. (2013). A Systematic Review of the Psychological Factors Associated With Returning to Sport Following Injury. British Journal of Sports Medicine, 47(17), 1120-1126.

 

 

UKiB ist das Ziel

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass mittels Selbstwirksamkeit alles erledigt ist. Sonst hätte sicherlich auch Asafa Powell wesentlich mehr Goldmedaillen errungen. Vielmehr muss das Ziel uKiB heissen. Unbewusste Körperkontrolle in Bewegung.

 

Das Ziel uKiB beschreibt dabei die Fähigkeit, Bewegungen automatisch und effizient auszuführen, ohne bewusste Kontrolle.

Segmentale Stabilisation ist nur eines von vielen Werkzeugen, die individuell und kurzfristig eingesetzt werden können, um dieses Ziel zu erreichen. Es ist wichtig, dass der Patient versteht, dass er nicht bei jeder Bewegung bewusst den Bauch anspannen muss. Siehe auch: https://coreknowledge.eu/2022/08/26/die-5-grundsaetze-des-trainings/

 

Louis Gifford, ein englischer Physiotherapeut, hat es so ausgedrückt: Physiotherapy is about the restoration of thoughtless, fearless and painless movement.

 

 

Doch wie erreicht man uKiB? 

Im Fokus stehen unter anderem Techniken wie:

  • Aufmerksamkeitsfokus: Das Training richtet sich auf Aufgaben, relevante Ziele und Handlungseffekt. [9] [10] [11] Zum Beispiel Anweisungen wie: Triff den Ball oder lande weich anstelle von hebe den Ellbogen auf 90 Grad oder beuge deine Knie.
  • Implizites Lernen: Bewegungen werden durch Nachahmung oder natürliche Übung statt durch detaillierte Anweisungen geschult. Die Therapeutin macht Schulterübungen und die Kundin muss sie gleichzeitig genauso machen, ohne Erklärungen. Oder der Kunde muss eine Kiste auf die Liege hochheben und wieder zurück. Eventuell im Takt eines Metronoms oder mit signalisierten Stopps.

  • Motivierendes Umfeld: Das Training wird so gestaltet, dass es Freude bereitet und gleichzeitig herausfordernd ist. Balanceübungen auf einem Bein und Ballon jonglieren. Walk and stick im Takt von Musik. Die Leistungen protokollieren und vergleichen.

  • Mitentscheidung des Patienten: Die Übungen als auch die Reihenfolge wird vom Patienten (mit)entschieden….

 

[9] Gottwald V, Davies M and Owen R (2023 a) Every story has two sides: evaluating information processing and ecological dynamics perspectives of focus of attention in skill acquisition.Front. Sports Act. Living 5:1176635.doi: 10.3389/fspor.2023.1176635

[10] Davies M Owen R, Gottwald V and Singh H (2024) Harnessing the power of attention: Exploring 'focus of attention' theories, practice, and myths.

[11] Henrik Herrebrøden (2023) Motor Performers Need Task-relevant

Information: Proposing an Alternative Mechanism for the Attentional Focus Effect, Journal of

Motor Behavior, 55:1, 125-134, DOI: 10.1080/00222895.2022.2122920

 

Neue Perspektiven für Therapie und Training 

Durch das klare Ziel uKiB kann der Therapeut entsprechend dem aktuellen Zustand des Patienten individuell planen. Das Erreichen des Ziels ist nicht strikt an vorgegebene Therapiekonzepte gebunden, sondern kann flexibel an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. 

 

Eine starre Übungsabfolge oder festgelegte Methoden weichen einer individuellen Anpassung, die die persönlichen Vorlieben und den Spass des Patienten in den Therapieprozess einbezieht.  Hall et al. (2010) zeigen auf, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Patient und die Flexibilität im Therapiemodell den Behandlungserfolg massgeblich beeinflussen können. [12] Anstatt sich strikt an vorgegebene Protokolle zu halten, können Therapeuten durch Anpassung der Therapie auf die Bedürfnisse und Überzeugungen des Patienten eine effektivere und individuellere Behandlung ermöglichen.

 

[12] Hall AM, Ferreira PH, Maher CG, Latimer J, Ferreira ML. The influence of the therapist-patient relationship on treatment outcome in physical rehabilitation: a systematic review. Phys Ther. 2010 Aug;90(8):1099-110. doi: 10.2522/ptj.20090245. Epub 2010 Jun 24. PMID: 20576715.

 

 

Ausblick auf die kommende Blogreihe

In den nächsten Beiträgen werden wir uns vertieft mit den Faktoren auseinandersetzen, die eine unbewusste Körperkontrolle in Bewegung fördern können. Wir werden wissenschaftliche Erkenntnisse zu Themen wie der Rolle der Patientenglaubenssätze, der Bedeutung intrinsischer Motivation und den Prinzipien des impliziten Lernens einfliessen lassen und zeigen, wie diese in der Praxis angewendet werden können. Wir zeigen Wege auf, wie Therapeuten und Trainer das Vertrauen und die Selbstwirksamkeit ihrer Patienten fördern und gleichzeitig die Freude und Kreativität im Therapiealltag steigern können.

 

Viel Spass dabei!


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