Hast du dich schon einmal gefragt, wie 120 Sekunden dir helfen könnten, dass deine Kundinnen und Kunden schon zu Beginn eine positive Erfahrung bei dir machen?
Sei es als Physio, Fitnesstrainerin, Osteopath, Chiropraktikerin oder auch als Arzt - jede Berufsgruppe ist im gesundheitlichen Dienstleistungssektor tätig. Es wird also ein Dienst der Kundschaft gegenüber geleistet und diese hat teils eine klare Vorstellung - So unter anderem von ihrer ersten Konsultation. Sie weiss sehr genau, was ihr wichtig ist. Dazu zählt für 6 von 10 Patientinnen und Patienten eine gute Kundenerfahrung im Laufe ihrer Konsultation zu haben. (Wolf JA, 2018) Ausschlaggebend dafür sind teils banale Faktoren, wie zum Beispiel schnelle Genesung, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Doch wie oft fragen wir uns wirklich, was dem Kunden, der Kundin wichtig ist? Und viel wichtiger: wie oft handeln wir, nach diesen Kriterien?
Beginn wir am Anfang einer jeden Konsultation – dem Gespräch. In der Konversation sollte der Therapeut, die Therapeutin die Klientschaft - aber auch umgekehrt - kennen lernen. Es wird eine wichtige Grundlage für die Verbindung zwischen Kundin und Kunde und Therapierendem im Sinne einer therapeutischen Allianz gebildet. (Cole & Bird, 2013) Was ist in einem solchen Gespräch aus Sicht der Kundinnen und Kunden wichtig? Sind es die gezielten fachspezifischen Fragen, die die Kompetenz der Therapeutin hervorheben oder will der Kunde einfach nur ausreden dürfen?
Nicht sehr überraschend ist es für 96% der Kundinnen und Kunden sehr oder extrem wichtig, dass ihnen zugehört wird. (Wolf JA, 2018) Diese Erfahrung ist für sie am wichtigsten. Wesentlich überraschender ist wohl eher, dass dieses Zuhören in der Praxis eher seltener Anwendung findet. In einer etwas älteren Studie von Marvel et al. wurde festgestellt, dass Kundinnen und Kunden in 75% der Fälle nach durchschnittlich 23 Sekunden unterbrochen wurden. (Marvel et al., 1999)
Als Grund dafür scheint Zeitdruck ein gutes Argument. In einem Behandlungsintervall von meist maximal 30 Minuten meinen Therapeutinnen und Therapeuten dadurch schneller voranzukommen, um im Anschluss effektiver im Sinne von länger «arbeiten» zu können. Aber stimmt das auch in der Realität?
Anfangsstatement nach 120 Sekunden abgeschlossen
80% der Kundinnen und Kunden haben ihr Anfangsstatement nach 120 Sekunden abgeschlossen. (Langewitz et al., 2002) Interessanterweise haben Ärzte nach diesen 120 Sekunden sogar mehr wertvolle Informationen aufgenommen. Diese Informationen gehen verloren, wenn du die Kundin oder den Kunden frühzeitig unterbrichst und deinen Fragekatalog abarbeitest. In der besagten Studie wurden hierzu zwar keine Beispiele genannt aber kennst du es nicht auch, dass deine Kundschaft überraschenderweise einen beitragenden Faktor benennt, an den man in den ersten 120 Sekunden nicht direkt gedacht hat (Tod eines engen Bekannten, Arbeitsplatzverlust usw.)? Lässt man also die Kunden ausreden, können Aspekte zu Tage treten, welche den weiteren Prozess beeinflussen können und erst dadurch kann effektiv gearbeitet werden.
Beispiel: 12-jährigen Mädchen kommt mit langjähriger Geschichte am Fuss in Therapie. Sie erzählt ihre Geschichte und am Schluss sagt sie: "Ich habe einfach das Gefühl, ich muss den Fuss mehr belasten anstatt die ganze Zeit zu entlasten." Kurze Zeit des Zuhörers und du weisst, was du machen musst.
Durch aktives Zuhören – und nicht (aktives) Unterbrechen der Kundin – wird zudem die Patientenzentrierung gestärkt. (Marvel et al., 1999) Die Kundinnen und Kunden fühlen sich wahrgenommen und die Grundlage für eine therapeutische Allianz mit shared decision making ist gelegt. Alles Grundlagen, damit eine gute Erfahrung für die Kundinnen und Kunden und im weiteren Verlauf ein guter Genesungsprozess ablaufen kann.
Wenn also eine Kunde zu dir kommt, dann gib ihm doch bitte seine 120 Sekunden und sei nicht unhöflich. Das ist weniger Zeit, als du für das Lesen dieses Artikel gebraucht hast. Du wirst schneller an dein Ziel kommen und deine Kundinnen und Kunden werden es dir danken.
In diesem Sinne: Halte die Ohren nicht nur steif, sondern vor allem offen!
Stefan Lerch
+41 79 764 76 16
Literatur
- Cole SA, Bird J. The Medical Interview: The Three Function Approach. Third edition. Philadelphia, PA: Elsevier Saunders; 2013.
- Langewitz W, Denz M, Keller A, Kiss A, Rüttimann S, Wössmer B. Spontaneous talking time at start of consultation in outpatient clinic: cohort study. BMJ. 2002 Sep 28;325(7366):682-3. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.325.7366.682. PMID: 12351359; PMCID: PMC126654.
- Marvel MK, Epstein RM, Flowers K, Beckman HB. Soliciting the patient's agenda: have we improved? JAMA. 1999 Jan 20;281(3):283-7. doi: https://doi.org/10.1001/jama.281.3.283. PMID: 9918487.
- Wolf JA. Consumer perspectives on patient experience 2018. July 2018. Available at: https://www.theberylinstitute.org/store/download.aspx?id=7BA04B37-A525-4D4A-B847-C636D36BF2BB. Accessed January 17, 2022.