Die Kniebeuge ist einfach - oder?
Vor ein paar Tagen war ein junger Leistungssportler bei uns für einen osteopathischen Check-Up und eine Trainingsberatung. Er ist im U-16 Nationalkader, motiviert und auch mental sehr leistungsbereit. Die osteopathische Untersuchung hat nichts Gravierendes ergeben.
Im Laufe der Trainingsberatung kamen wir auf die Kniebeuge zu sprechen und er hat sie mir vorgemacht. Denn oft muss man nur wissen wie sie trainieren und weiss dann wie die Testresultate sein werden - SAID sei Dank.
Seine Demonstration war keine harmonische, kraftvolle Bewegung eines jungen Sportlers. Man konnte sehen, dass er versuchte die verschiedensten Anweisungen - Gewicht auf den Fersen, Knie nicht über die Fussspitze, Bauch einziehen - umzusetzen. Dieser innere Fokus führte zu einer unharmonischen Bewegung.
Schade, für einen jungen Sportler, wenn er sich durch Over Coaching nicht mehr richtig bewegen kann:
"Die Knie dürfen nicht über die Fussspitze"
Zu hören ist diese Anweisung seit Jahren in der Therapie, im Fitnesstraining und im Sport. So ganz eindeutig ist die Herkunft dieser Anweisung nicht. Hartmann und Wirth1 benennen eine Studie von Ariel2 von 1974 als Quelle. Andere5 McLaughlin von 19783.
Hartmann/Wirth schreiben dazu: «Diese Übungsanweisung basiert auf einer Fehlinterpretation bestehender Daten und sollte in der zukünftigen trainingspraktischen Literatur keine Berücksichtigung mehr finden.»1
Sutor/Diemer schrieben schon 2007 dazu: «In vielen Fällen spiegeln solche Empfehlungen lediglich die Unsicherheit des Therapeuten wider, mit den biomechanischen Gegebenheit umzugehen. Sie sind deshalb zu vermeiden.»4
Ein gesundes Knie muss je nach Körperbau über die Fussspitze hinaus. Bei Männern sind es etwa 9.5 cm, bei Frauen 6.5 cm. Bei der 90-Grad-Kniebeuge ist man sowieso noch nicht so tief, dass die Knie weit nach vorne gehen. Und spätestens ab da nehmen die anterioren und posterioren Scherkräfte ab.
Was man oft sieht ist ein hüftbreiter Stand, dabei sind die Scherkräfte aber höher als bei einem schulterbreiten Stand.14 Das Vermeiden der anterioren Knieverschiebung über die Fussspitze hinaus, führt zum einem etwa 10-fach höheren Drehmoment im Hüftgelenk und zu höheren Scherkräften in der Wirbelsäule5. Diese Anweisung sollte man Gesunden nicht grundsätzlich geben.4, 13
"Das Gewicht ist auf den Fersen / mit den Fersen stossen"
Woher diese Anweisung kommt, haben auch schon andere nicht herausgefunden.6 Sehr wahrscheinlich hängt es mit dem Powerlifter Style (siehe weiter unten) zusammen oder man wollte Menschen bei denen sich die Ferse vom Boden hebt korrigieren. Und es kam zu einer Pauschalisierung dieser Anweisung und Überreaktion. Es darf aber aus Gründen des Gleichgewichts und damit der Sicherheit nicht sein, dass es zum Abheben des Vorfusses kommt. Für eine optimale Kraftentwicklung muss das System (Körper/Hantel) stabil sein. Die Stange ist während der ganzen Übungsausführung über der Mitte des Fusses. Es wird der ganze Fuss belastet. 12,13
"Bauch einziehen, Bauchnabel zur Wirbelsäule ziehen"
Zur Verbesserung der LWS Stabilität beim Training wird diese Anweisung an einigen Ausbildungsorten heute noch gelehrt. Aber McGill und andere weisen schon lange darauf hin: «Bauchmuskeln anspannen ist stabiler als den Bauchnabel zur Wirbelsäule zu ziehen (hollowing vs bracing». 7,8 Das „Einziehen“ ist als Übung zur Verbesserung des Feedforwards gedacht und nicht zur Stabilisierung während man in Bewegung ist.
Eine Kniebeuge wird langsam ausgeführt, dass heisst der Transversus abdominis hat genügend Zeit das Richtige zu tun. Denn es wurde ja nur ein verzögertes Feedforward von einigen Millisekunden bei schnellen Bewegungen gemessen. Aber dies wäre eigentlich ein Thema für einen anderen Beitrag.9, 10
Die Anweisung für einen Gesunden lautet: Wirbelsäule neutral halten (=stabilisierte Lordose).4 Dann machen alle "lokalen" und "globalen" Muskeln zusammen alles richtig.
Wir kommen noch einmal auf das „Knie und die Fussspitze“ zurück. Oder die Anweisung das Schienbein möglichst vertikal zu halten. Sportler führen Kniebeugen aus unterschiedlichen Gründen verschieden aus:
Die Frontkniebeuge wird zum Beispiel von Gewichthebern trainiert weil sie der Position beim Clean/Umsetzen entspricht. Die Wirbelsäule ist am aufrechtesten. Weniger Scherkräfte in der Wirbelsäule, dafür mehr im Knie. Von allen drei hier besprochenen Varianten kann mit der Frontkniebeuge am wenigsten Gewicht gehoben werden.
Die Nackenkniebeuge, der Klassiker, es kommt zu einer harmonischen Beugung im Hüft-, Knie- und Sprunggelenk. Es ist mehr ein absitzen als ein "nach hinten sitzen". Die Ausführung kommt nahe an die Beinbewegungen im Sport, wie zum Beispiel bei Sprüngen oder beim Beschleunigen.
Die Powerlifter versuchen ihre Schienbeine möglichst vertikal zu halten und gehen sehr stark in Vorlage um die Belastung vom Knie auf die Hüfte zu verlagern, weil sie so am meisten Gewicht stemmen können (zirka 500 kg). Die Hantelstange ist tiefer positioniert als bei der Nackenkniebeuge.
Hier ist es mehr ein "nach hinten sitzen".
Je nach sportlichem Ziel oder Gesundheitszustand ist die entsprechende Variante zu wählen. Aber Achtung: Wenn ich in einer mehrgelenkigen Übung ein Gelenk schonen will, wird automatisch ein anderes mehr belastet.5
Alle Varianten sind für Gesunde und mit dem richtigen Trainingsaufbau kein Problem. Gewichtheber haben erwiesenermassen nicht mehr Knieprobleme als der Rest der Bevölkerung.1 Junge Gewichtheber sind weniger häufig verletzt als Basketballer, Leichtathleten oder Kunstturner.11
Das Bewegungsverhalten und die Einstellung zur Belastbarkeit des Körpers kann man durch Hinweise und Bemerkung sehr stark beeinflussen. Negativ wie positiv. Gerade bei jungen Menschen.
Stefan Lerch
CorpoSana
Leiter Training
Literatur
1. Hartmann Hagen, Wirth Klaus, Literaturbasierte Belastungsanalyse unterschiedlicher Kniebeugevarianten unter Berücksichtigung möglicher Überlastungsschäden und Anpassungseffekte, Schweizer Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie 62 (1), 6-23, 2014
2. Ariel B.G. (1974): Biomechanical analysis of the knee joint during deep knee bends with heavy loads. In: Biomechanics IV, NelsonR., Morehouse C. (eds.). University Park Press, Baltimore, pp. 44-52
3. McLaughlin et al., Kinetics of the parallel squat, Research Quarterly, 1978
4. Sutor, Diemer, Praxis der medizinischen Trainingstherapie, Seite 274, Ausgabe 2007
5. Fry A.C. et al., Effect of knee position on hip and knee torques during the barbell squat. J Strength Cond Res. 17: 629-633, 2003
6. http://www.cybexintl.com/education/exerciseanalysis/Default.aspx?id=5, 15.04.2017
7. McGill Stuart, Low Back Disorders, Seite 229, Third Edition 2016
8. Maeo S et al., Trunk muscle activities during abdominal bracing: comparison among muscles and exercises, J Sports Sci Med 12(3):467-74, 2013
9. Lederman Eyal, The myth of core stability, J of Bodywork & Movement Therapie, Elsevier 14, 84-98, 2010
10. Wirth K et al., Core Stability in Athletes: A Critical Analysis of Current Guidelines, Sports Med 47:401-414, 2017
11. Hamill B.P., Relative safety of weightlifting and weight training, J Strength Cond Res 8:53-57, 1994
12. Rippetoe M, Starting Strength Basic Barbell Training 3rd Edition 12-13, 2013
13. Myer G D et al., The Back Squat : A Proposed Assessment of Functional Deficits and Technical Factors That Limit Performance, Strength Cond J 6:4-24, 2014
14. Schoenfeld Brad, Squatting Kinematics and Kinetics and Their Application to Exercise Performance, J Strength Cond Res 24 (12) 3497-3506 2010