Am 7. Dezember 2016 ist Frederik Lambers Heerspink an der Reichsuniversität Groningen promoviert zum Thema „Degenerative Full Thickness Rotator cuff tears: towards optimal management“.
Die Doktoratsarbeit bietet für uns als Physios mit Interesse an aktiver Rehabilitation sehr viel Stoff zum Nachdenken. Mein Blogbeitrag ist ein erster Anstoß dazu:
Lambers Heerspink hat sich mit der Frage beschäftigt, ob degenerative Rotatorenmanschettenrupturen primär operiert oder doch konservativ behandelt werden sollen.
RCT
Dazu hat er sowohl ein Systematic Review zu prognostischen Faktoren gemacht und zusätzlich ein Randomized Clinical Trial mit insgesamt 56 Patienten. Jetzt bitte nicht gleich wieder der Spruch „ach das sind ja gar nicht genug Patienten“ oder Ablenkungsmanöver „Powerproblem“. Erst mal zu Ende lesen und drüber nachdenken!
Operation
25 von diesen Patienten wurden operiert und 31 Patienten wurden konservativ behandelt. Die Operation bestand aus einer mini-open-procedure. Die ersten sechs Wochen post OP wurden Patienten mit einer Schlinge versorgt und nur Ellebogen und Hand aktiv bewogen. Nach sechs Wochen wurde mit aktiven Schulterübungen begonnen und Krafttraining ab der 12. Woche.
Physiotherapie
Die Patienten in der konservativen Gruppe bekamen eine (bis max. drei) subakromiale Kortisoninjektion (-en), Physiotherapie und Schmerzmedikamente. Physiotherapie bestand aus glenohumeralem Mobilitätstraining und Training der Skapulafixatoren.
Assessment
Sowohl bei Inklusion als auch nach 12 Monaten wurde ein MRT gemacht. Außerdem natürlich diverse PROM’s wie der Constant-Murley score (CMS) und Visual Analogue Scale (VAS).
Patienten
Das Durchschnittsalter in beiden Gruppen war 60 Jahre (SD 7-7,2 Jahre) und die durchschnittliche Beschwerdedauer bei Inklusion lag bei 12 Monaten.
Resultate
73% der operierten Patienten hatte ein Jahr nach der Operation eine erneute Rotatorenmanschettenruptur. Trotz entsprechender Analysen konnten keine prognostischen Faktoren ermittelt werden, die eine Reruptur vorhersagen könnten.
Operierte Patienten bei denen nach einem Jahr die Rotatorenmanschette noch intakt war hatten eine bessere Funktion und weniger Schmerzen als operierte Patienten mit einer Reruptur und Patienten, die konservativ behandelt wurden. Dies deckt sich mit ähnlichen RCT’s (Kukkonen 2014 und Moosmayer 2010).
Überlegungen
Das coole an der Arbeit ist, dass sowohl der Autor (Mediziner) als auch jeder Arzt, Physio aber eben auch Patienten sich die Frage stellen können/müssen welche Therapieform für welchen Patienten am meisten geeignet ist:
· Klar, wenn man wüsste, dass jeder ältere Patient mit degenerativer, symptomatischer Ruptur 1 Jahr später eine deutlich bessere Schulterfunktion und weniger Schmerzen hätte, würde man einfach alle operieren…
· Aus anderen Studien wissen wir, dass Patienten mit einer erfolgreichen Rekonstruktion der Rotatorenmanschette mehr Kraft in der Schulter haben als nicht operierte Patienten. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass aktive Patienten (Beruf oder Hobby) vielleicht eher eine OP-Indikation haben als „ADL-Patienten“.
· Ein Grund, warum doch häufig schneller eine Operation geplant wird, ist die Angst vor Vergrößerung der Ruptur, Retraktion des Muskelbauches, Retraktion der Sehne und Fettinfiltrierung von Muskelbauch und Sehne. Der Autor hat bei den konservativ behandelten Patienten die MRT-Bilder nach einem Jahr ausgewertet und verglichen mit dem Baseline MRT und auch mit den MRT-Bildern der operierten Patienten. Er konnte keine Vergrößerung der Ruptur oder Zunahme der Verfettung feststellen. Zurecht weist er auch darauf hin, dass in anderen Studien diese Phänomene wohl gefunden wurden. Die Nachmessungen bei diesen Studien waren jedoch nach 2-2,5 Jahren. Dementsprechend drängt sich der Schluss auf, dass der Zeitraum für konservative Reha vielleicht viel grösser ist als viele Ärzte, Physios und Patienten denken! Oder anders gesagt „It seems unethical to perform a rotator cuff repair in patients with no or few symptoms, exposing them to possible risks and complications.“ (Seite 95 der Thesis).
· Es gilt zu beachten, dass diese Schlussfolgerungen wohl für Patienten über 60 Jahren gelten. Bei jüngeren Patienten müssen wohl wieder andere Überlegungen angestellt werden. Aber meiner Erfahrung nach werden nach wie vor in Österreich und der Schweiz diese älteren Patienten immer noch häufig operiert ohne das konservativ erst alle Register gezogen wurden. Dies ist sicher vergleichbar mit der Diskussion bei degenerativen Meniskusproblemen operieren oder konservativ zu behandeln (Buchbinder 2016, Khan 2014). Für den interessierten Leser auch unten noch ein paar Links zu diesem Thema.
· Ich denke, der Autor kommt zurecht zum Schluss, das konservative Therapie die primäre Behandlungsstrategie sein sollte bei degenerativen Rotatorenmanschettenrupturen. Für uns als Physios ist das natürlich eine gute Nachricht und gleichzeitig natürlich auch der Aufruf aufmerksam zu sein. Beschwerdezunahme kann auf Vergrößerung der Ruptur hindeuten. Je älter die Patienten und je grösser die Rupturen desto ungünstiger ist die Prognose.
· Die Therapie sollte so gestaltet werden, dass Mobilität, Koordination und Kraft von BWS, Schultergürtel und –gelenk verbessert werden. Aufgrund der sehr eingeschränkten adaptiven Fähigkeiten der degenerierten Rotatorenmanschette gebe ich in den Kursen des ESP-Education Networks immer das Motto aus: „Trainiere bei diesen Patienten alles außer dem m. supraspinatus“. Klassische Übungen sind: AR in Seitlage, side lying forward flexion, Bizeps curl, cable row (Fotos 1-4). In meiner täglichen Arbeit mit jungen Sportlern aber auch älteren Patienten finde ich es immer wieder erstaunlich wie weit man häufig wieder trainieren kann wenn man denn systematisch trainiert und ausreichend Geduld und Erfahrung mitbringt.
Martin Ophey
Ergänzend:
· Moosmayer 2014 http://jbjs.org/content/96/18/1504
· Buchbinder 2016 (meniscus): http://bjsm.bmj.com/content/50/22/1413.short
· Khan 2014 (meniscus): http://www.cmaj.ca/content/early/2014/08/25/cmaj.140433.abstract